Donnerstag, 6. Januar 2011

Gelesen: Michael Klonovsky - Land der Wunder

Als in den ganz frühen 80er Jahren geborener Wessi habe ich von der Wende gerade mal mitbekommen, wie meine Familie gesammelt und gerührt vor dem Fernseher stand, es draußen schon dunkel war und im Fernsehen jubelnde Menschen eine Riesenfeier vor und vor allem auf einer hässlichen Mauer veranstalteten. Die hässliche Mauer wurde zum Glück von eben diesen Feiernden demoliert, was mir in meinem grundschülerisch-braven Leichtsinn die Illusion von etwas verrucht-verbotenem suggerierte, sodass ich irgendwie nicht ganz den Freundentaumel von Fernsehbesatzung und Angehörigen verstehen konnte. Schließlich machten die ja offenbar was kaputt, und besoffen auf einer ziemlich hohen Mauer herumzutanzen, erschien mir auch irgendwie zu gefährlich, als dass es angemessen gewesen wäre, Freudentränen darüber zu vergießen.
Trotz meines noch nicht eben fortgeschrittenen politischen Verständnisses war aber dennoch klar, dass da gerade etwas ganz besonderes passierte - schließlich interessierte sich niemand mehr für meine Bettgehzeiten. Helmut Kohl trat im Fernsehen zudem ständig als schon hinreichend bekannte Bastion der ruhigen und gefassten Worte auf, was mich dann auch zunehmend beruhigte.
Kurz darauf bekammen wir Besuch von unserer gesammelten Ossi-Verwandschaft, was gleich das etwas gespaltene Verhältnis von Ost zu West zu Tage förderte. Und zwar unmissverständlich auch für Grundschüler. Die verwandten Onkels und Tanten waren allsamt nett, laut, fröhlich, herzlich und ziemlich neugierig. Ein Grundschüler fand das toll und aufregend. Insgesamt betrachtet für einen durchschnittlichen Ende der 90er-Wessi-Erwachsenen waren sie allerdings wahrscheinlich einfach ein bißchen zu nett, zu laut, zu fröhlich, zu herzlich und zu ziemlich neugierig, kurz gesagt, der Besuch schien alle Versammelten nach einigen Tagen gewonnener Freiheit zunehmend zu belasten.
Trotzdem luden uns die Onkels und Tanten zu sich nach Ostdeutschland ein, man verlebte schöne zwei Wochen voller Verwunderung über die dortige Rückständigkeit - aber wundervolle Landschaft - im ziemlich frisch geöffenten Ex-DDR-Terrain - und ließ es dann auch gut sein.

Die Wende ist inzwischen alt, wir haben alle "Goodbye Lenin" gesehen und Ulrich Plenzdorf gelesen, haben uns über den Solidaritätszuschlag geärgert, Leipzig, Dresden und Berlin bereist und Kontakte zu Ossi-Verwandschaften vergessen oder neue zugereiste und West-eingeheimatete Ossis in unseren Bekanntenkreis aufgenommen. Ost-West-Geschichten mag ich allerdings immer noch, vielleicht weil ich als Kind live ein Ereignis mitbekommen habe, das ich damals noch gar nicht richtig einordnen konnte. Also nahm ich erfreut die Buch-Leihgabe eines Freundes entgegen, das dieser - zusammen mit vordergründig einschlägig - kritischer Originalsignatur - aus den Händen des Autors selbstpersönlich anlässlich einer Würzburger Lesung bei der Studentenverbindung meines Vertrauens entgegen genommen hatte und begann zu lesen.

Das Buch begibt sich in die Gefilde von Johannes Schönbach, seines Zeichens Ossi, der sich mit sozialistischem Gedankengut nicht ganz anfreunden kann und darob, frisch von der Uni geflogen, in einem DDR-Schnapslager seinen Dienst antreten darf:

"Wer hier arbeitete, hatte in der Regel keine Ausbildung. Anders formuliert: Dieser Ort besaß für Leute mit einer Ausbildung nur eine geringe Attraktivität. Manche indes, die Creme sozusagen, führte den Titel Facharbeiter für Lagerwirtschaft und Warenbewegung; das war ein regulärer Ausbildungsberuf, den insbeondere Personen erlernten, bei denen schon in jungen Jahren Probleme im Zusammenhang mit den Grundrechenarten und dem sinnvollen Gebrauch des Alphabets beziehungsweise Abnormitäten des Sozialverhaltens aufgetreten waren, womit sich aufs Glücklichste vertrug, dass die Komplexität der Lagerwirtschaft sich in vermittelbaren Grenzen hielt: Auf der einen Seite kam der Fusel sortenrein an, auf der anderen verließ er das Lager in jenen Portionen, die Geschäfte, Kaufhallen oder Gaststätten geordert hatten. Zwischendurch wurde er von jenem Teil der Belegschaft, der es mit der Täglichkeit des Bedarfs ernst nahm, nach Kräften dezimiert".

Schönbach, auch sozial vielleicht nicht immer ganz einfach, mit unterschiedlichsten Freunden und Bekannten sowie Gespielinnen durch den Roman patroullierend, gelingt zunächst durch Hilfe der Sprung aus der Schnaps-Baracke, durch die Wende und eigenen Antrieb ein kleiner Aufstieg im Journalismus und durch mehr oder weniger glückliche Fügung der Umzug nach (ausgerechnet - naja, eben:) München, und schließlich ein ganz anderes Leben.
Schönbach vertritt erstaunlich eigene Ansichten, die sich zum Glück keinem politischen Genre zuordnen lassen, was ich durchaus, gepaart mit dem Klonovski offenbar ganz eigenen Stil langer, aber sehr humorvoller Sätze, überaus erfrischend fand. Die Essenz des Buches, die ausdrücklich nicht belehrt, belehrt dabei ganz außerordentlich. Zum Glück nicht in Ansichtssachen, sondern z. B. in Geschichte, und zum Glück nicht nur in deutscher, sondern auch darüber hinaus (Anm.: Lexikon der Grieschischen Sagen und des Altertums in die Lektüre mitnehmen - hab ich natürlich nicht gemacht, hätte meinem Allgemeinwissen aber wohl nicht geschadet...).
Insbesondere in sprachlicher Hinsicht hat mich dieser Klonovsky ziemlich überzeugt. Inhaltlich hat er mich an meine Ossi-Verwandten erinnert, die ich plötzlich gerne mal wieder besuchen würde, und die so viele Jahre nach der Wende auch gar keine Ossis mehr sind, sondern eben der Teil der Verwandschaft, die einfach nicht nur weiter entfernt verwandt ist, sondern auch ziemlich weit weg wohnt.
Das Buch handelt also von Fall und Aufstieg, ist sozusagen die Geschichte vom Phönix aus der Asche, auch wenn Schönbach die Wende offenbar noch frisch geschlüpft erlebt, ohne tatsächlich ein Teil von ihr zu sein. Insofern hat er mit einem neunjährigen Wessi ja vielleicht sogar etwas gemeinsam.

Fazit: Lesen.
Wer mag: weiterlesen unter http://www.michael-klonovsky.de/

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